Groko oder Neuwahlen? Nein – es gibt eine dritte Option!

Die SPD kann entweder Angela Merkel zwingen, eine Minderheitsregierung zu führen – oder sie kann selbst eine Minderheitsregierung anführen. Dazu muss sich nur jemand aus der SPD im Bundestag zur Wahl stellen. Nennen wir es #option3.

Klingt verrückt? Ist es aber nicht. Gib mir zwei Minuten 😉

(Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Fassung meines Beitrags von Mitte Januar – mit vielen neuen Ideen und einem weniger kontroversen Hashtag.)

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD liegt seit ein paar Tagen auf dem Tisch, und Begeisterung hat er wohl bei kaum jemandem in der SPD ausgelöst. Manche argumentieren nun, dass eine GroKo – selbst auf der Grundlage dieses müden Kompromisses – die einzige Lösung, das kleinere Übel, ja eine patriotische Pflicht sei. Denn Angela Merkel wolle nun einmal keine Minderheitsregierung, und damit blieben sonst nur Neuwahlen.

Ich glaube nicht, dass das stimmt. Denn die SPD kann entweder Angela Merkel zwingen, eine Minderheitsregierung zu führen – oder sie kann selbst eine Minderheitsregierung anführen. Und beide Optionen bieten wesentlich mehr Chancen als eine weitere GroKo oder Neuwahlen, die höchstens die AfD stärken würden.

Philip Banse und ich haben die Möglichkeiten der SPD-Fraktion in unserem Podcast Lage der Nation einmal durchgespielt: Was, wenn beispielsweise Andrea Nahles – nach der Selbstzerfleischung von Martin Schulz die naheliegendste Persönlichkeit aus der SPD-Fraktion – ankündigt, sie trete im Bundestag zur Wahl als Bundeskanzlerin an?

Das klingt erst mal verrückt. Die SPD hat doch keine Mehrheit im Bundestag!

Das stimmt aber nur halb. Denn sie hat zwar keine absolute Mehrheit der Stimmen im Bundestag hinter sich, weil es eben keine Koalition gibt, schon gar nicht unter Führung der SPD. Aber zur Wahl als Bundeskanzler(in) braucht man auch keine absolute Mehrheit: Nach Art. 63 des Grundgesetzes reicht es, im dritten Wahlgang die meisten Stimmen zu bekommen. Mit anderen Worten: Die SPD-Fraktion kann beispielsweise Andrea Nahles ganz allein zur Kanzlerin wählen – sofern niemand von der Union antritt. Lediglich für den Vorschlag eines Kandidaten oder einer Kandidatin braucht man nach der Geschäftsordnung des Bundestages entweder die Unterstützung einer Fraktion, die ein Viertel des Bundestages stellt (was auf die SPD-Fraktion nicht zutrifft), oder die Unterstützung von einem Viertel der Parlamentarier(innen). Das sollte leicht zu schaffen sein, denn es gibt genügend MdBs, die weder Angela Merkel noch Neuwahlen wollen, auch bei Linken und Grünen.

Wenn also beispielsweise Andrea Nahles ihre Kandidatur ankündigt, dann hat die Union genau drei Möglichkeiten:

  • Angela Merkel fällt um und lässt sich zur Kanzlerin einer Unions-Minderheitsregierung wählen
  • Merkel bleibt hart, aber irgendjemand bei der Union putscht und tritt als Kanzler(in) an
  • die Union schaut zu, wie Andrea Nahles zur Bundeskanzlerin gewählt wird

Ich denke, alle drei Optionen sind besser als eine Groko nach dem Muster, das im Koalitionsvertrag festgelegt wurde.

Wenn Angela Merkel oder jemand anders aus der CxU-Fraktion Kanzler(in) einer Minderheitsregierung wird, kann die SPD aus der Opposition heraus für ihre sozialen, gerechteren Alternativen werben. Der Koalitionsvertrag ist beispielsweise eine echte Pleite, wenn es um Themen wie “Ende der Zwei-Klassen-Medizin” oder “wirksame Mietpreisbremse” geht. Hier ließen sich mit geringem Aufwand Vorschläge für eine wirklich sozialdemokratische Politik formulieren und in den Bundestag einbringen. Selbst wenn sie scheitern sollten, gewinnt die SPD auf diese Weise an Profil und damit die Chance, bei der nächsten Bundestagswahl wieder stärker zu werden.

Und nichts hindert die SPD-Fraktion, im Einzelfall Kompromisse zu schließen und gute Ideen gemeinsam mit der Union oder auch mit anderen Parteien umzusetzen, wie sie sich im Koalitionsvertrag etwa im Bereich Bildung (Ende des Kooperationsverbots) und Europa abzeichneten. Wahrscheinlich lässt sich auf diese Weise mindestens ebenso viel sozialdemokratische Politik durchsetzen wie in einer GroKo – aber ohne Fraktionszwang, und mit der Freiheit, falsche Unions-Konzepte nicht zähneknirschend mittragen zu müssen.

Und wenn Andrea Nahles Kanzlerin würde? Klar, dann wartet auf sie und die Fraktion die Herkulesaufgabe, Mehrheiten im Bundestag zu organisieren. Das wird nicht einfach, bietet aber endlose Möglichkeiten zur Profilierung als soziale Alternative zur Union – und damit zugleich die Möglichkeit, Union, FDP und AfD als unsozial zu entlarvend. Deswegen greift auch das Argument zu kurz, es gebe im Bundestag eine rechte Mehrheit: Eine Politik gegen die Interessen der Mehrheit der Menschen in Deutschland mag zwar rechnerisch möglich sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass die konservativen Parteien sie auch wagen würden. Immerhin müssen auch sie bei einer Minderheitsregierung jederzeit damit rechnen, wieder einen Wahlkampf bestehen zu müssen. Dann möchte auch die Union nicht die Partei sein, die beispielsweise eine Deckelung der Mieten verhindert hat. Die SPD muss sie nur endlich wieder vor sich hertreiben!

Außerdem bedeutet eine Bundeskanzlerin Andrea Nahles auch ein Kabinett Nahles – sie könnte also brillante Köpfe als Minister(innen) auswählen, vielleicht auch den einen oder anderen aus anderen Fraktionen, und so selbst dann viele sozialdemokratische Akzente setzen, wenn die Gesetzgebung klemmt. Allein diese Sichtbarkeit in den Medien dürfte die SPD locker wieder auf 25% und mehr heben.

Schließlich wäre eine Minderheitsregierung, letztlich egal mit wem als Kanzler(in), eine Sternstunde des Bundestages. Denn der Bundestag – immerhin die Vertretung des Volkes – würde wieder zu einem Raum der Debatten und zum eigentlichen Machtzentrum der deutschen Politik.

Das Grundgesetz bietet also viel mehr Chancen als Groko oder Neuwahlen! Die SPD sollte sie nutzen. Andrea Nahles sollte sich im Bundestag zur Wahl stellen und so den Bluff von Angela Merkel – “ich will keine Minderheitsregierung” – entlarven: Kaum tritt jemand von der SPD an, wird Angela Merkel aller Wahrscheinlichkeit nach einknicken und sich zur Kanzlerin wählen lassen.

Und wenn nicht? Dann wird eben doch noch ein(e) Sozi Bundeskanzler(in). Immerhin hat die SPD dafür neun Monate lang gekämpft. So nah dran wie heute war sie noch nie.

Wagen wir wieder mehr Demokratie! Wagen wir eine Minderheitsregierung in Deutschland, damit die demokratischen Parteien wieder an Profil gewinnen.
 
Es gibt nicht nur Groko oder Neuwahlen – es gibt eine #option3. Und sie wäre eine gute Wahl.

FAQ

Aber muss dabei nicht auch der Bundespräsident mitpielen?

Ja. Aber warum sollte er den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen, wenn dabei nach allen Umfragen dasselbe Kräfteverhältnis herauskäme? Daher bin ich mir sicher, dass er eine(n) mit relativer Mehrheit gewählte(n) Kanzler(in) auch ernennen würde.

Aber was ist denn, wenn ein(e) SPD-Kandidat(in) mehr Nein- als Ja-Stimmen bekommen würde? Dann ist er doch nicht gewählt, oder?

Doch. Auf Twitter geistert zwar ein älteres Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes herum, wonach auch zur Wahl nach Art. 63 Abs. 4 GG erforderlich sei, dass die “Ja-Stimmen die Nein-Stimmen überwiegen”. Das ist aber nicht überzeugend: Eine Auslegung, nach der es nicht genügen soll, “die meisten Stimmen” zu erhalten, wie es das Grundgesetz vorsieht, sondern nach der mehr positive als negative Stimmen erforderlich sein sollen, wäre mit Art. 63 Abs. 4 des Grundgesetzes nicht vereinbar. Denn sie würde dazu führen, dass doch annähernd eine absolute Mehrheit erforderlich wäre, während das Grundgesetz ab dem “dritten” Wahlgang – der auch schon der zweite sein kann, wenn kein Wahlgang nach Art. 63 Abs. 3 GG stattfindet – ausdrücklich ausreichen lässt, dass jemand “die meisten Stimmen” erhalten hat.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz Neuwahlen nach den bitteren Erfahrungen der Weimarer Republik möglichst vermeiden möchte. Stattdessen soll soweit irgend möglich eine Kanzlerwahl zustandekommen. Ob das Stimmverhältnis gut genug war, das kann dann immer noch der Bundespräsident bei seiner Entscheidung berücksichtigen, ob er die gewählte Person ernennen oder lieber den Bundestag auflösen will. Dafür muss man nicht gleich das Grundgesetz so verbiegen, dass jemand gar nicht erst gewählt sein soll, obwohl er wie vom GG verlangt die meisten Stimmen bekommen hat, nur weil das Stimmverhältnis nicht gut genug gewesen sei.

Der Wortlaut des Art. 63 Abs. 4 GG spricht noch unter einem anderen Aspekt dafür, dass nicht mehr Ja- als Nein-Stimmen erforderlich sind: Die Norm sieht schlicht den Fall nicht vor, dass gar niemand gewählt ist, denn sie trifft keine Regelung, wie dann weiter zu verfahren ist. Die Verfassung geht vielmehr davon aus, dass in der Situation des Art. 63 Abs. 4 GG stets irgendjemand gewählt wird (weil stets jemand “die meisten Stimmen” bekommen wird, und sei es eine einzige) – und überlässt es dann dem Bundespräsidenten, Konsequenzen aus dem Ergebnis zu ziehen. Das spricht sehr deutlich dafür, die Anforderungen an eine Wahl nicht über den Wortlaut hinaus zu verengen und damit eine solche ungeregelte Situation künstlich und ohne Not herbeizuführen.

Wie hier beurteilt die Rechtsfrage übrigens Prof. Dr. Martin Morlok in einem Gutachten für den Landtag Thüringens sowie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer aktuellen “Kurzinformation” vom 6. Februar 2018, der nunmehr ebenfalls vorschlägt, dass der Bundespräsident das Stimmverhältnis bei seiner Entscheidung berücksichtigen möge.

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